Offener Brief
Offener Brief
an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
Lübeck, den 5. August 2018
Sehr geehrter Herr Bundesgesundheitsminister,
mit Verwunderung und zunehmender Irritation stellen wir, Vertreter der Initiative Young Helping Hands (www.young-helping-hands.de), fest, dass Sie wieder und wieder versäumen, die Situation pflegender Kinder und Jugendlicher in Deutschland zu thematisieren; d.h. Minderjährige, die regelmäßig für chronisch kranke Familienmitglieder sorgen. Es erscheint uns daher notwendig, Sie mit der aktuellen Lage vertraut zu machen und Ihnen nahezubringen, warum ein Handeln Ihrerseits dringend erforderlich ist.
Die ZQP-Analyse „Erfahrungen von Jugendlichen mit Pflegebedürftigkeit in der Familie“ von Katharina Lux und Simon Eggert (2016) ergab, dass zu diesem Zeitpunkt in Deutschland 5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren (also ca. 230.000 SchülerInnen oder anders gesagt: 1-2 Kinder pro Schulklasse) ein Familienmitglied pflegten: sei es z. B. die an Multipler Sklerose erkrankte Mutter, der krebskranke Vater, die demente Großmutter. 90 Prozent von ihnen gaben an, mehrmals in der Woche zu helfen, ein Drittel (33 %) täglich, beispielsweise bei der Nahrungsaufnahme, bei der Einnahme von Medikamenten oder bei der Körperpflege. Des weiteren gaben 54 Prozent an, sich viele Sorgen um das erkrankte Familienmitglied zu machen; negativ wurden auch der Mangel an Freizeit (12 %), die körperliche Anstrengung (10 %) oder niemanden zum Reden zu haben (9 %) bewertet.
Unter Umständen wie den oben beschriebenen ist es Kindern und Jugendlichen nicht möglich, altersgemäß zu leben und sich zu entwickeln. Nachteilige emotionale, soziale, körperliche und schulische Auswirkungen können die Folge sein. Mehr noch: Aus internationalen Studien zu Spätfolgen bei Kindern und Jugendlichen als ehemalige Pflegende geht hervor, dass daraus resultierende schulische Beeinträchtigungen in zahlreichen Fällen zu verminderten Bildungschancen führten (Quelle: EPYC – SchülerInnen mit Pflegeverantwortung für kranke oder behinderte Familienmitglieder, Handbuch für den Bildungsbereich mit Arbeitsmaterialien).
Zwar möchten diese Kinder und Jugendlichen gerne ihren pflegebedürftigen Angehörigen helfen und einen Familienalltag erleben, der so normal wie möglich ist. Das kann und darf jedoch nicht bedeuten, dass das deutsche Gesundheitssystem auf Minderjährige als „stillste Reserve“ in der häuslichen Pflege setzt und gleichzeitig die Existenz dieser Gruppe samt ihrer Bedürfnisse auch noch ignoriert. Der jetzige Zustand ist eine Bankrotterklärung der Pflegepolitik!
Wir fordern deshalb:
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öffentlichkeitswirksame Aufklärungsarbeit und Enttabuisierung, z.B. in Form von Kampagnen in zielgruppenspezifischen Medien
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Angebote zur Stressprävention, die speziell auf die Situation junger Pflegender zugeschnitten sind
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Angebote zum Ausgleich vom Pflegealltag wie Peer Group-Treffen, Young Carer Festivals und Care Center (wie es sie bereits erfolgreich in Großbritannien und Australien gibt)
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Patenschaften für Kinder und Jugendliche mit Pflegeverantwortung
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eine höhere/dichtere Anzahl von Beratungsstellen, auch für erkrankte Eltern
Sehr geehrter Herr Spahn, setzen Sie sich dafür ein, dass betroffenen jungen Menschen, die sich oft aus Unwissenheit oder Scham nicht trauen, auf ihre Lage aufmerksam zu machen, zugehört wird!
Machen Sie diese Minderjährigen sichtbar, damit auch Lehrer, Familienangehörige und Pflegepersonal nicht wegsehen!
Sorgen Sie dafür, dass pflegende Kinder und Jugendliche, die sich Hilfe und Entlastung wünschen, diese schnell und umfassend erhalten, um chronische Überforderung sowie gesundheitliche und soziale Folgen zu verhindern!
Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung.
Mit freundlichen Grüßen
Julika Stich, Jahrgang 1981, ehemals minderjährige Pflegende
Janine Adomeit, Jahrgang 1983, ehemals minderjährige Pflegende